„Das Lernen findet im Kopf statt oder gar nicht“. Die unzweifelhafte Grundlage menschlichen Verhaltens und Lernens ist das Gehirn. Jeder Mensch kann – und zwar viel besser als jedes andere Lebewesen – sein Gehirn an seine Umwelt und deren Anforderungen anpassen. Und das Schöne daran: Diese Anpassungsleistungen erfordern keine heroischen Kraftakte physischer oder kognitiver Art. Sie sind einfach nur eine Frage der Zeit und passieren sozusagen nebenbei.
Wer oft Geige spielt, wird gut im Geigenspielen und kann seine Finger der linken Hand schneller und präziser bewegen. Im Gehirn werden mehr Nervenzellen für die Repräsentation dieser Finger eingesetzt. Wer schon früh anfängt Geige zu spielen, hat mehr Platz im Gehirn für die Finger seiner linken Hand. Wer oft Schach spielt, wird gut im Schachspielen. Das Gedächtnis sammelt unzählige Schachstellungen und Schachzüge werden leichter analysiert und behalten. Wer oft vor dem Fernseher sitzt, …
Gehirne sind plastisch – man spricht von Neuroplastizität. Diese Neuroplastizität bildet die Grundlage für die Anpassungsleistungen, für die Veränderung des Gehirns beim Gebrauch. Neuroplastizität ist ein Segen für jedes einzelne Individuum, gelingt doch dadurch eine optimale Übereinstimmung von Person und Umwelt. Jedes Individuum verändert sich im Einklang mit seiner Umwelt und deren Aufgaben. Doch was ein Segen für den Einzelnen ist, bereitet Probleme, wenn die unterschiedlichen Einzelnen als homogene Gruppe adressiert werden. Strukturen und Methoden, die auf „One size fits all“ setzen, werden kaum jemandem gerecht. Die folgenden Grundprinzipien des Lernens aus der Sicht des Gehirns gelten jedoch für jeden einzelnen Lerner.
1. Reizdarbietung allein reicht nicht
Passieren die erwähnten Anpassungsleistungen „nebenbei“ und sind einfach nur eine Frage der Zeit? Wenn man es ganz genau nimmt: nein. Neurowissenschaftliche Studien konnten zeigen, dass die Darbietung von Reizen allein nicht unbedingt zu Lernen führen muss. Vielmehr müssen die Reize eine Bedeutung für den Organismus haben. Nur dann, wenn das zu Lernende eine Bedeutung für den Lerner hat, funktioniert Lernen optimal.
Diese neurowissenschaftliche Binsenweisheit ist nichts Neues. Selbst der Volksmund weiß: Gesagt ist noch nicht gehört, gehört ist noch nicht verstanden, verstanden ist noch nicht gekonnt. Was heißt das für den lernenden Schüler? Er muss sich aktiv mit einem Gegenstand auseinandersetzen. Was heißt das für den unterrichtenden Lehrer? Er wird seinem Auftrag nicht schon allein dadurch gerecht, dass er den Lernstoff anbietet, sondern erst dann, wenn er sich darum bemüht, dass dieser Stoff auch beim Lernenden ankommt. Was heißt das für einen Schulleiter und für die Organisation von Schule? Die überzeichnete Haltung eines Lehrers, der meint, er unterrichte ein Fach, nicht Schüler, sollte damit jedenfalls passé sein.
2. Das Gehirn lernt aus Erfahrungen
Gehirne verändern sich in Abhängigkeit der Umwelt. Was tut das Gehirn dabei? Das Gehirn speichert regel-hafte Erfahrungen aus der Umwelt und verändert sich dadurch. Gehirne extrahieren die Regeln hinter ein-zelnen Erfahrungen.
„Wer seinen Kindern Liebe predigt, macht sie nicht zu Liebenden sondern zu Predigern.“ Menschen lernen nicht nur in Lehrsituationen. Lernen ist nicht die Folge von Lehren. Oft geschieht Lernen ohne Lehren und manchmal Lehren ohne Lernen.
Das Gehirn ist ein schneller und effizienter Regel-Extraktor. Es abstrahiert Regeln aus Einzelheiten. Diese Regeln werden nicht immer verbalisiert, treten aber z.B. als „Bauchgefühl“ in Erscheinung: „Ich weiß, das ist so! Aber ich kann nicht genau sagen, warum…“. Um aus den Einzelheiten Regeln zu extrahieren, braucht das Gehirn Erfahrungen. Es generiert diese Regeln nur über Erfahrungen. Dabei können verbal vermittelte Regeln diesen Prozess unterstützen und reflektierend verfestigen, jedoch nicht ersetzen.
3a. Lernen braucht „Aktivierung“ (z.B. durch emotionale Beteiligung)
Diese Erkenntnis geht auf ein altes psychologisches Gesetz zurück. Es wird beschrieben als Yerkes-Dodson Kurve: die umgedrehte U-Funktion zwischen Erregung (auch Arousal oder Stress) und Leistung. Für das Lernen ergibt sich daraus, dass es weder untererregt (gelangweilt) noch übererregt (gestresst) optimal gelingt. Neurowissenschaftliche Studien konnten dabei den Effekt der Emotionen nachweisen. Wurden die Emotionen pharmakologisch geblockt, erinnerte sich die emotional aktivierte Gruppe genauso schlecht an Gesehenes, wie die nicht aktivierte Gruppe. Die emotionale Beteiligung ist notwendig zum Lernen und sollte nach Art und Intensität auf die Situation und den Inhalt abgestimmt werden. Wer also meint, durch schlichte Anwesenheit und unbeteiligtes Zuhören die Inhalte zu verstehen, der bleibt hinter seinen Möglichkeiten zurück.
3b. Lernen mit positiven Emotionen
Was mit Angst und Furcht gelernt wird, wird gemeinsam mit dem Gefühl von Angst und Furcht gespeichert. Verantwortlich dafür ist der Mandelkern, ein Hirnareal, das uns Menschen zu raschen „Kampf-oder-Flucht“-Reaktionen befähigt. Schlimmer noch: beim Abruf von Wissen, das unter negativen Vorzeichen gelernt worden war, ist ebendieses Areal wieder aktiv. Wer aber die Probleme der Zukunft erfolgreich bewältigen soll, braucht einen kreativen Umgang mit den in der Kindheit und Jugend erworbenen Fähigkeiten. Es lohnt sich, an einer „Schule der guten Atmosphäre“ zu arbeiten!
4. Verarbeitungstiefe schafft Nachhaltigkeit
Je tiefer man sich mit einem Lerninhalt auseinandersetzt, desto besser kann man sich daran erinnern. Dieser Effekt wird durch die Abspeicherung von Wissensinhalten in unserem Gedächtnis verursacht und zeigt sich schon beim Anschauen von schnell aufeinander folgenden Wörtern. Für das Vermitteln von Lerninhalten ergibt sich, dass die effektivsten Formen diejenigen sind, die den Lernenden zum „tiefen“ Denken anregen. Es sind selten die Situationen des Abschreibens von der Tafel, die uns mit ihren Inhalten im Gedächtnis geblieben sind. Was heißt das für den Gestalter von Lernsituationen? Er sollte tiefes Nachdenken fördern, Bezüge zum Basiswissen herstellen und Vernetzung ermöglichen.
5. Selbstbestimmt springt der „Lernturbo“ an
Das Gehirn hat ein System, das positive relevante Informationen von der Flut der irrelevanten unterscheidet. Dieses System wird durch den Neurotransmitter Dopamin gesteuert. Ein wichtiger Ort des Geschehens ist der Nucleus Accumbens, der im Laufe seiner Erforschung als Suchtzentrum, Lustzentrum oder Belohnungszentrum bezeichnet worden ist. Tatsächlich aktivieren viele Drogen dieses Zentrum. Um dieses Zentrum jedoch dauerhaft zu aktivieren sind Drogen äußerst ungünstig – bedarf es doch immer größerer Mengen, um den gleichen angenehmen Zustand herzustellen. Es gibt aber eine „gesunde“ Möglichkeit dieses System immer wieder zu aktivieren – selbstbestimmtes Lernen: das immer wiederkehrende Gefühl etwas zu können, was man vorher noch nicht konnte oder etwas zu wissen, was man nicht wusste. Drei Begriffe mit der Initiale „E“ sichern die Motivation, sich immer wieder neuen Herausforderungen zu stellen: Eigenständigkeit, Eingebundensein und Erfolg.
6. Aufmerksamkeit ist wichtig, aber begrenzt
Wenn wir uns aufmerksam mit einer Sache beschäftigen, passiert viel Lernförderliches in unserem Gehirn. Zum Beispiel lassen wir uns dann weniger von anderen Dingen ablenken. Und zum Beispiel werden die Bereiche, die für die Bewältigung der Aufgabe gerade nötig sind sozusagen „hochgeregelt“. Das ist wie wenn man eine schwere Tasche tragen muss und dafür im Augenblick zusätzliche Muskeln aushelfen. Klasse!
Doch schafft man es lange aufmerksam zu sein? Eine Forscherin hat im klassischen Frontalunterricht gezählt: Innerhalb einer Vorlesungsstunde schweiften drei Viertel der Studenten zwischen 5 und 20 Mal ab. Sie dachten an andere Dinge, wie z.B. das Abendprogramm. Sie waren nicht aufmerksam. Zumindest hatten sie ihre Aufmerksamkeit nicht auf den Lehrer und den Lerninhalt gelenkt. Das kommt häufiger vor als man denkt: bei zwei Prozent der Studenten mindestens einmal alle 90 Sekunden. Frontalunterricht ist ein Lernarrangement, das den Abschweifenden auf der Strecke lässt. Welche Lernarrangements funktionieren auch unter diesen Bedingungen? Und welche Lernarrangements vermögen das Abschweifen vermindern?
Dr. Katrin Hille
(Forschungsleiterin des TransferZentrums für Neurowissenschaften und Lernen, Universität Ulm)
